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6. September 2023

Wir präsentieren: Die bereits zehnte Ausgabe der marktforschung.de-Kolumne "Herberts Welt"!

Dieses Mal geht es um die Zukunft - und wieder zurück! Wohin geht unsere Reise - also die der Marktforschung? Wer behält die Oberhand bei "Human vs. Artificial Intelligence"? Und is a fool with a tool tatsächlich still a fool?

Spannende Fragen, spannende Antworten. Viel Spaß beim Lesen!

Wissenschaftlichkeit ade! Oder wie viel
Künstliche Intelligenz verträgt die Marktforschung?

In der Marktforschung gilt bekanntlich neben dem Geheimhaltungsgebot und dem Trennungsgebot auch das Wissenschaftlichkeitsgebot. Formal bedeutet dies, dass alle Deutschen Institute, die einem oder mehreren der etablierten Verbände der Markt- und Sozialforschung (ADM, ASI, BVM, DGOF) angehören, den Internationalen Kodex für Markt-, Meinungs- und Sozialforschung und Datenanalyse der ICC/ESOMAR anerkennen.

Das klingt bürokratisch, ist aber wichtig: Denn damit bekennen sich alle beteiligten Institute zu drei berufsethischen Regeln, darunter das bereits erwähnte Gebot der Wissenschaftlichkeit. Demnach müssen alle Erkenntnisse mit "angemessenen Methoden und Techniken der empirischen Forschung" gewonnen werden.

Die Anwendung aller Regeln werden im vollständigen Code of Conduct erläutert, hier für Interessierte noch einmal zum Nachlesen die Deutsche Erklärung zum ICC.



Neben den bewährten Gütekriterien der Marktforschung - Objektivität,
Validität und Reliabilität - ist es vor allem die qualitativ hochwertige
empirische Forschung, die das eigentliche Fundament unserer Branche
sichert: ein Fundament aus Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Berufsethik!



Und nun kommt plötzlich die künstliche Intelligenz ins Spiel. Und auch unsere ureigene Angst vor dem Unbekannten dazu, denn KI ist für uns oft eine undurchsichtige und nicht nachvollziehbare Black Box.

„Künstliche Intelligenz wird jede Phase des Forschungsprozesses disruptieren". Das sage nicht ich, sondern Steve Philipps, CEO von Zappi, der sich kürzlich erst 170 Millionen Dollar Risikokapital von Investoren gesichert hat, um KI in das Pre-Testing zu integrieren. Ziel sei es, die Kosten für einen Pre-Test von 20.000 auf 2.000 Euro zu senken. Und das finde ich persönlich sowohl technisch als auch wirtschaftlich spannend: Wie genau wird Zappi das technisch umsetzen? Und wie wird der Markt darauf reagieren? Und was passiert eigentlich, wenn man sein eigenes Geschäftsmodell kannibalisiert?



In einem Punkt stimmt Steve Philipps aber zu 100 Prozent zu: “KI wird jede
einzelne Phase des Forschungsprozesses disruptieren!“



Zum Teil entspricht diese Aussage bereits der Realität. Denn schon heute werden langjährig etablierte Arbeitsabläufe in der Markt- und Meinungsforschung auf den Kopf gestellt. Immer neue Anwendungen machen nahezu alle Prozesse schneller, effizienter und nicht zuletzt kostengünstiger für unsere Kunden. Und sie schaffen Freiräume und Ressourcen, die wir in die Betreuung unserer Kunden oder in neue Produkte investieren können.

Die neuen Large Language Models (wie chatGPT oder Bard) ermöglichen die Verschmelzung von qualitativer und quantitativer Forschung. Eine Begrenzung der Datenmenge oder "too much data" sind bereits Begriffe und Probleme der Vergangenheit. KI-gestützt sind sowohl inhaltliche als auch statistische Analysen nahezu beliebiger Datensätze möglich. Ja, eigentlich unendlich!

Wird der Fragebogen also in Zukunft obsolet?

Nun die große Frage: Wenn all diese KI-Tools wie ein Hurrikan durch unsere Arbeit fegen, ist dann nicht auch die besagte Wissenschaftlichkeit der Empirie in Gefahr? Was ist dran an den Prognosen, dass "Feldarbeit" bald obsolet sein wird? Dass also Fragen nicht mehr von echten Menschen beantwortet werden, sondern von schlauen Algorithmen bereits "gewusst" werden und damit als Ergebnis für die weitere Verwertung beim Kunden sofort bereitstehen?

Ganz nüchtern betrachtet: Zumindest bei eher einfachen Marktforschungsfragen, sei es nach dem besten Verpackungsdesign oder typischen A/B-Testfragen, macht dieses Szenario schon heute Sinn und ist auch mit wenigen Handgriffen möglich. Besonders spannend finde ich, dass es bereits umfangreiche Diskussionen wie z.B. diese rund um die Nutzung synthetischer Daten gibt.

Das bedeutet wiederum in der Schlussfolgerung, dass KI-generierte-synthetische-empirische Daten aus der Blackbox quasi kostenlos für jedermann einfach zum Alltag gehören werden und damit eine der größten Bedrohungen in der Geschichte der empirischen Forschung überhaupt darstellen!

Die Zukunft hat schon längst begonnen!

Wenn ich Doc Brown aus Zurück in die Zukunft wäre, müsste ich nicht weit reisen, um einen Blick in die Zukunft zu werfen. Mehrsprachige Echtzeit-Avatare oder Software-as-a-Service-Applikationen (SaaS) mit hybriden oder komplett synthetischen Insights sind bereits verfügbar oder stehen in den Startlöchern. Schauen Sie doch mal bei Synthetic Users vorbei - aktuell zwar noch in der BETA Version, aber heute schon beeindruckend. KI-basierte-Apps treffen den Zeitgeist und lassen mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten die traditionellen Produkte klassischer Institute (zu denen übrigens auch die Onliner gehören) alt aussehen.

Konkret bedeutet dies für die Abnehmer unserer Dienstleistungen eine Neudefinition ihrer bisherigen Customer Journey. Marktforschung wird plötzlich 24/7 verfügbar sein, mit Ergebnissen in Sekunden statt in Tagen oder gar Wochen. Was für ein Gewinn an Effizienz und Effektivität! Mir wird ein bisschen schwindelig, aber okay...

Wann brauchen wir denn überhaupt noch "Human Intelligence"?

Ich hoffe inständig, dass bei Fragen, die den Menschen betreffen, auch weiterhin das Prinzip "Humans in the Middle" gilt. Ich hoffe, dass wir, wann immer wir psychische und soziale Dynamiken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse beobachten, erfragen oder mit ihnen experimentieren, auf die gute alte empirische Forschung zurückgreifen.



Denn je neuer, komplexer oder sensibler ein Thema ist, desto eher brauchen
wir menschliche als künstliche Intelligenz bei der Datenerhebung. Das
heißt: Das Feld ist nicht tot. Nein, es lebe bitte lange noch!



Lasst uns alles erforschen!

Als leidenschaftlicher Marktforscher war das schon immer mein Traum, jetzt wird er wahr: Marktforschung mit und für alle, im wahrsten Sinne des Wortes! Aber ohne Profis wird es auch mit noch so guter KI nicht gehen. Denn sowohl die Datenkompetenz als auch die Interpretationskompetenz sind unsere entscheidenden Assets, die sich nicht ersetzen lassen.



Schließlich gilt nach wie vor: A fool with a tool is still a fool.



Durch die technologiegetriebenen Qualitätssprünge wird sich die Customer Experience deutlich verändern und auch verlagern. Stand bisher die Datenerhebung und -aufbereitung im Vordergrund, so wird der gute Marktforscher zum ganzheitlichen Coach. Das bedeutet, unsere Kunden von der ersten Problemerkennung über die Umsetzung der Insights bis hin zur Entwicklung als langfristiger Berater und Partner zu begleiten.

Nicht zuletzt diese tieferen Beziehungen eröffnen neue Umsatzquellen, die auf der anderen Seite durch DIY-Tools verloren gehen können. Das wird wie bei disruptiven Veränderungen in allen Branchen passieren: Die Tüchtigen werden die Chancen nutzen und noch besser werden. Wer aber zögert und an überholten Prozessen festhält, wird über kurz oder lang untergehen.

KI in der Marktforschung: Mehr Fleischwolf oder Goldmine?

Mein Fazit: KI macht uns eindeutig besser. Und zwar in allen Prozessen rund um unsere Produkte. Sehen wir der Realität ins Auge: Fast alles, was wir uns heute vorstellen können, ist bereits möglich. Aber in ein paar Jahren wird auch das möglich sein, was wir uns heute noch gar nicht vorstellen können!

Zurück zu den wissenschaftlichen Prinzipien: Sie sind die DNA guter, erfolgreicher Markt- und Meinungsforschung. Diese Prinzipien müssen auch in Zukunft geschützt werden und dürfen nicht von einer KI-Welle weggespült werden. Feldforschung darf daher niemals durch synthetische Daten ersetzt werden, zumindest dann nicht, wenn es um neue und substanzielle Erkenntnisse über den Menschen geht.

Rubbish in - Rubbish out.

Was nützen die besten Prozess- und Entscheidungsalgorithmen, wenn die zugrunde liegenden Daten nur bestehende Muster aus der Vergangenheit reproduzieren und sich am Ende vielleicht sogar selbst nähren? Hochwertige, valide und belastbare Daten bleiben die Basis für alle unternehmerischen Entscheidungen. Dafür brauchen wir den Kontakt zu echten Menschen, sei es online, telefonisch oder face-to-face.

Wir Marktforscher behalten hoffentlich die Datenhoheit und Datenkompetenz, aber wir nehmen für unsere Kunden eine neue Rolle ein, damit sie im riesigen Datenmeer nicht untergehen: Als "Chief Understanding Officer" oder "Chief Consulting Officer" geht es mehr denn je um Verstehen, Beraten und Begleiten.


Herbert Höckel

Herbert Höckel ist geschäftsführender Gesellschafter hier bei bei der moweb research GmbH. Seit mehr als 25 Jahren ist er Marktforscher. 2004 gründete er die moweb GmbH, welche er bis heute als Inhaber führt. Die moweb aus Düsseldorf ist international tätig und eines der ersten deutschen, auf digitale Verfahren spezialisierte Marktforschungsinstitute.

Gerne können Sie sein Buch "Customer Centricity Mindset ® - Kunden wirklich verstehen, Disruption erfolgreich meistern" hier erwerben.

Ihr Erfolg, Unser Ziel!